Dr. med. Elisabeth Krudewig (1912–1994)

Die erste niedergelassene Ärztin Cloppenburgs
Elisabeth Antoinette Franziska Berssenbrügge wurde am 30. Dezember 1912 als sechstes von acht Kindern des Landwirts Gerhard Berssenbrügge und seiner Frau Elisabeth geborene Thien auf dem elterlichen Hof in Klein Roscharden bei Lastrup geboren.
Elisabeth besuchte von 1932 bis 1935 das Realgymnasium in Cloppenburg, wo sie 1935 ihr Abitur machte. Im Abiturzeugnis wurde ihre besondere sportliche Begabung hervorgehoben. Elisabeth äußerte den Wunsch, Pilotin zu werden, doch ihr Vater sprach ein Machtwort: „Das schlag dir aus dem Kopf!“ Der nächste Wunsch, Sportlehrerin zu werden, stieß ebenso auf den Widerstand ihres Vater: „Mit 50 Jahren noch vor Kindern zu stehen und hopsen, das gibt es nicht für dich!“ Also entschloss sich Elisabeth nach Absolvierung des Reichsarbeitsdienstes in Lingen, wie ihr älterer Bruder Paul ein Medizinstudium aufzunehmen und gemeinsam mit ihm in Münster und später in München zu studieren. Nach fünfjährigem Studium legte Elisabeth Berssenbrügge am 1. Oktober 1940 in Frankfurt/Main ihr Staatsexamen ab. Anschließend promovierte sie in Münster und erhielt am 30. April 1942 ihre Approbation. In den folgenden Jahren machte die junge Ärztin ihre praktische Ausbildung in einer Lungenheilstätte in Mölln bei Lauenburg, im Kreiskrankenhaus Ludwigsburg, in der Chirurgie der Krankenanstalten der Stadt Dessau sowie als Assistentin auf der gynäkologischen Station im Kreiskrankenhaus Dessau-Köthen.
Am 25. April 1943 heiratete sie den Stabsveterinär Karl-Heinz Krudewig aus Cloppenburg, den sie bereits seit ihrer Schulzeit kannte. Kriegsbedingt fand eine Ferntrauung statt: Während Karl-Heinz Krudewig die Heiratsurkunde vor Offizieren an seinem Standort an der Ostfront unterzeichnete, leistete Elisabeth ihre Unterschrift vor dem Standesbeamten in Köthen. Die kirchliche Trauung nahm Dechant August Hackmann am 17. September 1943 in der Cloppenburger Krankenhauskapelle vor. Anschließend musste sich das junge Ehepaar wieder trennen: Karl-Heinz Krudewig kehrte an die Ostfront zurück und Elisabeth Krudewig ins Krankenhaus nach Köthen. Seinen letzten Brief von der Front, in dem er seine Wünsche für den Namen seines ungeborenen Kindes äußerte, schrieb er am 21. Juni 1944 an seine im 3. Monat schwangere Ehefrau. Dies war das letzte Lebenszeichen, das seine Angehörigen von ihm erhielten.
Im Juni 1944 zog Elisabeth Krudewig nach Cloppenburg zu ihren Schwiegereltern in die Bahnhofstraße 20. Als die Kriegssituation bedrohlicher wurde, brachte ihr Schwiegervater sie auf den elterlichen Hof in Roscharden. Am 30. Dezember 1944 – und somit an ihrem eigenen Geburtstag – brachte sie im Lastruper Krankenhaus ihre Tochter Ingrid vorzeitig zur Welt. Während ihre Eltern sich um die kleine Tochter kümmerten, arbeitete Elisabeth Krudewig seit Mai 1945 in der verwaisten Lastruper Arztpraxis, da der Lastruper Arzt und Ortsgruppenleiter Dr. Ernst Stricker verhaftet und interniert worden war. Ohne eine Kassenzulassung zu haben, betreute die junge Frau bei jedem Wetter, bei Tag und auch bei Nacht viele Familien, Frauen und Kinder in den umliegenden Dörfern, und zwar mit dem Fahrrad.
Im November 1946 konnte sich Dr. Elisabeth Krudewig als erste Ärztin in Cloppenburg niederlassen. Ihre Praxis richtete sie sich im Haus der Schwiegereltern ein, die zunächst auch die Betreuung der kleinen Tochter übernahmen. Erst 1948 gelang es der jungen Ärztin nach mehreren Anläufen, eine reguläre Kassenzulassung zu erhalten, während ihr zuvor nur eine vorläufige und zeitweise auch keine kassenärztliche Zulassung bewilligt worden war. Ihren Schwerpunkt legte Elisabeth Krudewig auf die Betreuung von Familien, Frauen und Kindern. Nachdem sie zunächst Belegbetten im Cloppenburger Krankenhaus auf der Inneren Abteilung und auf der Wöchnerinnenstation hatte, erhielten später nur noch in Cloppenburg niedergelassene Fachärzte diese Belegbetten.
Das Leben war für die junge Ärztin und alleinerziehende Mutter in dieser Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach. Elisabeth Krudewig setzte sich intensiv für ihre Patienten ein. Oft war sie „Beichtvater“ in Not und Lebenskrisen. Tag und Nacht stand sie ihren Patienten zur Verfügung. Wie intensiv sie sich mit ihrem Beruf als Haus- und Landärztin identifizierte, ist daran erkennbar, dass sie sieben Jahre hintereinander am Heiligabend zu Geburts- und Sterbefällen gerufen wurde und viele Stunden außer Haus verbrachte.
Aus gesundheitlichen Gründen übergab Elisabeth Krudewig 1977 die Praxis an ihren Schwiegersohn Dr. Dietmar Raczek, den Mann ihrer Tochter Ingrid. Am 11. Mai 1994 verstarb Elisabeth Krudewig in ihren ehemaligen Praxisräumen in Cloppenburg.
Privat war Elisabeth Krudewig eher verschlossen. Lange hoffte sie auf die Rückkehr ihres vermissten Ehemannes. Erst 1967 – nach dem Tod ihrer Schwiegereltern – ließ sie ihn für tot erklären. Das Todesdatum wurde vom Standesamt Berlin auf den 31. Dezember 1945 festgelegt. Ihr Schicksal versuchte sie durch Arbeit und Einsatz für ihre Patienten zu bewältigen. Für persönliche Hobbys und Freizeitvergnügen, für Ferien und Reisen nahm sie sich keine Zeit. Entspannung suchte sie bei Besuchen ihrer Familie in Klein Roscharden, bei ihrer Freundin Leni Moormann in Nutteln oder bei der Pflege ihres Gartens.
Ihre einzige Schwäche bestand im Besitz eines weißen Mercedes-Sportwagens 230 SL mit Pagodendach. Ihr früherer sportlicher Ehrgeiz hat sie wohl zeitlebens nicht verlassen. Elisabeth Krudewig ertrug es nicht, wenn ein Porschefahrer versuchte, sie auf der Autobahn zu überholen, und damals gab es noch keine Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der A 1.
Text: Klaus Deux. Bild: Archiv Klaus Deux
Quellen: Die Ausführungen beruhen auf Erinnerungen von Tochter Ingrid Krudewig an ihre Mutter. In: Anna Maria Zumholz, Michael Hirschfeld und Klaus Deux (Hg.): Biographien und Bilder aus 575 Jahren Cloppenburger Stadtgeschichte. Münster: Aschendorff Verlag, S. 352–356.